Weshalb ins Ausland reisen, wenn die Schweiz eigentlich alles bietet, was man sich von einem Alpenland verspricht? Dass die Bergwelt der französischen und italienischen Alpen mit versteckten Perlen, wenig bekannten Nationalparks und verträumten Dörfern aufwartet, ist vielen Schweizern nicht bewusst. Aus diesem Grund lohnt sich die Fahrt ins nahe Ausland – erst recht mit dem eigenen Zuhause auf vier Rädern.
Eigentlich war alles ganz anders geplant. Es ist Mitte August, wir
stehen am Anfang unserer dreiwöchigen Wohnmobilferien und möchten durch
die Schweiz reisen. Eine kalte Nacht auf dem Gotthardpass liegt hinter
uns und die Nebelschwaden, die am Morgen das Wohnmobil umhüllen,
versprechen nichts Gutes. Erste Regentropfen, die der Nordwind mit sich
trägt, prasseln gegen die Scheiben. Aus unserer Vorstellung von sonnigen
Wandertagen im Urner Land und Wallis scheint in den nächsten Tagen
nichts zu werden. Statt frustriert Trübsal zu blasen, breiten wir die
Landkarte aus, studieren den Wetterbericht und entscheiden uns spontan,
den Gotthardpass auf südlichem Kurs zurückzulassen, um in Richtung
Italien und Frankreich aufzubrechen. Wieder einmal mehr schätzen wir die
Flexibilität, die das Reisen mit dem Camper zulässt. Wir möchten wie
geplant Wanderferien verbringen, jedoch bei möglichst trockenem Wetter.
Und dies verspricht uns die Wettervorhersage der Region «Hautes-Alpes».
Via Milano und Turin nähern wir uns auf bequemen, aber teuren
Maut-Autobahnen der italienisch-französischen Grenzregion bei Sestriere.
Wie erhofft zeigt sich auch bald einmal die Sonne, und wir schälen uns
aus den Fleecejacken. Nach einer kurzen, kurvenreichen Strecke mit
Grenzübertritt befinden wir uns schon wieder auf über 1800 Metern.
Der
französische Wintersportort Montgenèvre gefällt uns auf Anhieb und als
wir einen schön angelegten Stellplatz am Ortsrand entdecken, ist unser
erstes Etappenziel bestimmt. Fast 400 Kilometer liegen seit dem
Gotthardpass hinter uns. Der Stellplatz von Montgenèvre befindet sich
auf einem grosszügigen Gelände am Fusse der Wintersportanlagen. Im
Winter muss hier die Post abgehen, wie wir erfahren. Nun im Sommer hat
es trotz Ferienzeit im nahen Italien genügend freie Plätze und im
Örtchen mit seinem kleinen Zentrum geht es beschaulich zu. Wir erkunden
den Dorfkern zu Fuss, decken uns mit frischem Gebäck ein und stimmen uns
bei einem Kaffee an der Sonne auf die bevorstehenden Ferien ein.
Während
drei Tagen erkunden wir die Umgebung von Montgenèvre zu Fuss und per
Mountainbike. Das grosse Skigebiet des Ortes ist von zahlreichen Wegen
durchzogen, die sich vor allem auf dem Bike bestens erkunden lassen.
Auch wurden in dieser Grenzregion zu Italien früher zahlreiche
Militärstrassen in die Felsen geschlagen, die zu entlegenen Festungen
führen. Auf diesen Pisten gelangt man ohne technische Schwierigkeiten,
jedoch mit einiger Anstrengung, in die aussichtsreiche Höhe. Lässt man
die im Sommerschlaf ruhenden Ski- und Sessellifte zurück, taucht man in
eine kaum besiedelte, ursprüngliche Natur ein. Wir unternehmen an einem
herrlich klaren Sommertag eine ausgedehnte Wanderung ins nördliche
Hinterland des Skiortes. Menschen begegnen wir keinen, nur ein paar Kuh-
und Schafherden. Letztere werden von wachsamen Hirtenhunden bewacht,
die Wölfe von den Schafen fernhalten sollen. Auch in uns scheinen sie
eine bedrohende Spezies zu wittern. und als wir an einer Schafherde
vorbeigehen, stürzen sich auf einmal drei Hunde auf uns. Wir versuchen
die Tiere mit ein paar freundlichen Worten umzustimmen, doch gutes
Zureden hilft hier nicht. In kurzer Zeit schnappt einer der Hunde zu,
beisst Patrick in den Oberschenkel und lässt uns dann zähnefletschend
weiterziehen. Der Angriff hat uns völlig überrascht. Wir hoffen, auf
weiteren Wanderungen keinen bewachten Schafherden mehr zu begegnen.
Paradies am Ende der Welt
Nicht
weit von Montgenèvre entfernt befindet sich das Städtchen Briançon, das
sich nicht nur für einen kurzen Zwischenstopp mit Besichtigung des
Stadtzentrums anbietet, auch kann man sich hier bestens mit
Lebensmitteln eindecken, wenn man für die nächsten paar Tage in eines
der Seitentäler aufbrechen möchte. Westlich von Briançon breitet sich
der riesige Parc National des Écrins aus. Er umfasst wilde Täler,
vergletscherte Bergspitzen und eine reiche Fauna. Den Nationalpark
erreicht man nur durch die Seitentäler, die sich wie Finger ins Herz der
geschützten Landschaft strecken. Eines dieser Täler wurde uns als
Geheimtipp von Freunden empfohlen, und dahin möchten wir nun. Der Zugang
zum Vallouise befindet sich südlich von Briançon. Wir folgen der wild
schäumenden Durance durch das sich immer mehr verengende Tal. Auf einer
schmalen Strasse, die sich der Wand der Durance-Schlucht
entlangschlängelt, geniessen wir schwindelerregende Blicke in die Tiefe.
In L'Argentière-la-Basse biegen wir westwärts ab und rollen
anschliessend gemächlich talaufwärts in Richtung Ailefroide, unserem
Ziel. An den Wohnmobilfenstern ziehen verträumte Bergdörfer vorbei.
Links und rechts des Talbodens erheben sich senkrechte Felswände.
Dahinter schimmert das blau-weisse Gletscher-eis. Schon die Anfahrt nach
Ailefroide ist ein Erlebnis. Wüssten wir nicht, dass sich am Ende des
Tales ein grosses Campinggelände befindet, wäre es uns nie in den Sinn
gekommen, diesem engen Strässchen in die Wildnis zu folgen. Am Ziel
angekommen, erwartet uns ein sympathischer Mix aus Bergdorf,
Bergsteiger-Basislager und Campingparadies: Bei der Gabelung zweier
Täler ist auf einer riesigen Wiese und idyllisch zwischen den Bäumen ein
unglaublich weitläufiger, naturbelassener Campingplatz angelegt. Die
Einrichtungen sind einfach, aber man erhält alles, was man braucht. Wir
suchen uns ein sonniges Plätzchen mit Blick auf die imposanten Felswände
und lassen die Kulisse auf uns wirken.
Auf dem Campingplatz wimmelt
es von Kletterern, Bergsteigern und Wanderern, die jeweils morgens aus
ihren Zelten kriechen, in Richtung Felsen lossteuern, um abends mit
zufriedenen, braun gebrannten Gesichtern und hungrigen Mägen ins Camp
zurückzukehren. Wir tun es ihnen gleich und brechen jeweils frühmorgens
in die eindrückliche Bergwelt auf. Die Wanderwege beginnen direkt vor
der Wohnmobiltür, so dass man praktisch zum Bett rauskriechen und in die
Wanderschuhe springen kann. Wir erkunden die unberührten Seitentäler
und treffen immer wieder auf grosse Gamsherden, die sich durch unsere
Anwesenheit nicht aus der Ruhe bringen lassen. Auch wenn sich der
Rückzug der Gletscher deutlich zeigt, staunen wir über die doch noch
riesigen Gletscherfelder, die die Bergspitzen umfliessen. In der
Umgebung von Ailefroide befinden sich drei Berghütten, die man gut auf
einer Tageswanderung besuchen kann. Vor allem die Tour zum Refuge du
Glacier Blanc ist, was das Panorama und die Tuchfühlung mit den
Gletschern angeht, nicht zu übertreffen. Wir steigen von der Hütte noch
etwas weiter bis zur Gletscherzunge auf und blicken über die imposante
Eiswelt. In der Ferne können wir die Seilschaften ausmachen, die von der
Besteigung des über 4000 m hohen Barre des Écrins zurückkehren.
So
wohltuend der Aufenthalt auf dem Naturcamping auch ist, zieht es uns
nach einigen Tagen doch wieder weiter und wir verlassen den
unvergesslichen Platz talauswärts. Weit kommen wir allerdings nicht. Im
Örtchen Pelvoux lädt ein schön gelegener Campingplatz zu einer weiteren
Nacht ein. Auch von hier aus lässt sich der Nationalpark bestens
erkunden, und wir wählen eine anstrengende Tagestour aus. Mit den Bikes
geht es frühmorgens auf einem kleinen Strässchen bergwärts. Wir radeln
Kurve um Kurve in die Höhe, bis wir das Sommerweidegebiet von Chambran
erreichen. Dort lassen wir die Fahrräder stehen, um unsere Tour zu Fuss
fortzusetzen. Das breite Tal mit den saftigen Weiden, die schon zu
frühen Zeiten von den Schafhirten bevorzugt wurden, weicht im steilen
Aufstieg rasch einer Welt aus Felsen und Eis. Als wir über eine Kuppe
klettern und den Lac de l’Eychauda erblicken, trauen wir unseren Augen
kaum: Vor uns liegt in einem massiven Felskessel ein türkisfarbener
Bergsee, der wie aus dem Bilderbuch in der menschenfeindlichen Steinwelt
glitzert. Wir geniessen den Blick auf die Wellen, die sanft an Land
plätschern, bei einem frischen Baguette mit Brie. Gestärkt kann unsere
Wanderung weitergehen – die Stärkung kann man für die nächste Etappe gut
gebrauchen: der Weg wird steil, ausgesetzt und äus-serst schmal.
Konzentration ist gefragt, jeder Schritt muss sorgfältig gewählt werden.
Es wird nicht das letzte Mal auf unserer Reise durch die französischen
Alpen sein, dass uns ein als normaler Wanderweg gekennzeichneter Pfad
technisch herausfordern wird. Die Kraxelei wird mit einmaligen
Ausblicken über die weite Bergwelt belohnt. In der Ferne glitzern
weitere grosse Gletscher. Immer wieder stellen wir beim Blick auf die
Wanderkarte fest, dass diese Gegend völlig unbekanntes Neuland für uns
ist. Es macht Spass, nicht allzu weit von den Schweizer Alpen entfernt
völlig neue Gipfelwelten zu erkunden.
Ein ausführlicher Reisebericht ist im Magazin Wohnmobil & Caravan zu lesen.
Die Ausgabe 3/2019 lässt sich online bestellen.
An der Strecke
Mit der Alpe d'Huez und Val-d’Isère liegen zwei Orte an unserer Route, die bei Sportfans einen klingenden Namen haben. Eine Etappenankunft der Tour de France, wie es sie schon über 20 mal gab, ist jeweils ein besonderes Ereignis, und auch Radsportfans aus der Schweiz stehen mit ihrem Wohnmobil an der Strecke. Val-d'Isère ist als Skisportort durch die Weltcup-Rennen bei den Skifans bestens bekannt.
Wer Campingplätze in dieser Region sucht, findet auf www.campingfrance.com eine breite Wahl.
Text und Fotos: Alexandra Stocker
aus: Wohnmobil und Caravan, Heft Nr. 3/2019